Missverständnisse rund um die Expansion des Universums

anlässlich einer Sendung auf arte am 8.12.09 um 21:02 Uhr

Die homogene Expansion des Universums hat eine Besonderheit: sie bestimmt eine gekrümmte Raum-Zeit. Die zu ungenauen Vorstellungen über Entfernung, Bewegung und Geschwindigkeit aus der täglichen Erfahrung müssen präziser gefasst werden, will man nicht in die trivialen Fallen unserer Vorurteile geraten. Unsere Vorurteile stammen schließlich aus einem so kleinen Raum- und Zeitbereich, dass wir Krümmung bestenfalls von der Erdkugel kennen. Die Zusammenhänge werden hier auf einer Mercator-Karte (das ist ein geschwindigkeitstreues Orts-Zeit-Diagramm) des Universums illustriert.

1. Es gibt keinen Rand des Universums. Es ist ein Vorurteil aus unserer beschränkten Erfahrung, wenn wir glauben, Expansion könne nur in einen umgebenden leeren Raum hinein stattfinden und das Expandierende müsse deshalb einen Rand haben, der dann auch eine Geschwindigkeit hat, und ein Volumen, das größer wird.
Es gibt keinen Rand, unendlich bleibt immer unendlich, wie Hubert Reeves in der Sendung zu Recht moquant bemerkt. Von einem Universum in der Größe eines Stecknadelkopfs zu sprechen, bedient einfach nur die missverstandene Erwartung (eventuell auch die des Sprechers). Nach allem, was wir wissen, ist der Raum zu einem gegebenen kosmischen Zeitpunkt eben und unendlich. In die Vergangenheit gerechnet wird das Universum enger und dichter (und heißer), aber nicht kleiner. Die Leitanalogie dazu ist die Zahlengerade oder das unendlich lange Bandmaß. Wenn es expandiert, sagen wir um den Faktor zwei, dann fallen die neuen Markierungen der ganzen Zahlen auf die alten Markierungen der geraden Zahlen. Die Abstände haben sich also alle verdoppelt. Es ist aber immer noch ein unendlich langes Band, und es gibt ebenso viele alte wie neue Markierungen, und jede Markierung hat eine andere Geschwindigkeit.
Die Expansion des Universums wird durch eine Rate, nicht durch eine Geschwindigkeit charakterisiert. Auch diese Rate ist zeitabhängig. Der Expansionsparameter a[t] ist das Verhältnis der Maßzahlen der Abstände, gemessen einmal in Metern (oder einem Vielfachen davon), zum anderen in momentanen mittleren Galaxienabständen (oder einem Teil davon. Die Expansionsrate ist

H[t]=(1/a[t])(da[t]/dt).

2. Den Zustand des Universums zum heutigen Zeitpunkt können wir prinzipiell nicht beobachten. Da das Licht eine endliche Geschwindigkeit hat, ist der Blick in die Tiefe des Raums immer ein Blick in die Vergangenheit. Der heutige Horizont (dort wo heute die Rotverschiebung unendlich und die aus ihr geschlossene Relativgeschwindigkeit gleich c wird) liegt auf dem Anfang der Zeit. Auf dem Anfang der Zeit hat der Durchmesser des Horizonts das Maß Null. Die Orte auf dem heutigen Horizont liegen im unbeobachtbaren Heute auf einer Kugel mit einem bestimmten Radius. Dieser Radius wächst mit der Expansion. Aber das Verhältnis der Zuwächse dieses Radius mit der Zeit hat nur die Dimension einer Geschwindigkeit und ist keineswegs eine Relativgeschwindigkeit. Wen interessiert auch die Vergößerung des heutigen Radius des heutigen Horizonts? Weshalb nicht die Vergrößerung des heutigen Radius des Horizonts seit der Erschaffung der Welt vor 5000 Jahren ;-)?

3. Der aktuelle Horizont auf dem Anfang der Zeit wird immer größer, da dort aber das Maß seines Durchmessers immer Null ist, ist die Zunahme dieses Maßes mit der Zeit auch immer Null. Der Horizont hat die Qualität einer Schattengrenze, die sich verschiebt.

4. Wenn man berücksichtigt, dass die Geschwindigkeit nur als Richtung in Raum und Zeit verstanden werden kann, falls Raum und Zeit nicht mehr so einfach sind (d.h. falls die Raum-Zeit gekrümmt ist), dann haben die Orte auf dem Horizont eines gegebenen Zeitpunkts auch zum Anfang der Zeit eine Geschwindigkeit. Berechnet man die Relativgeschwindigkeit eines solchen Ortes zu uns, dann erhält man immer die Lichtgeschwindigkeit. Zu allen späteren Zeiten (d.h. Zeiten nach dem Anfang) sind die Relativgeschwindigkeiten kleiner als die Lichtgeschwindigkeit.

5. Zum Anfangszeitpunkt sind die Abstände zwar alle Null, das Universum enthält aber immer noch so viele unterscheidbare Punkte wie nachher. Zwei Punkte vom Abstand Null fallen nicht notwendigerweise zusammen. Das gilt zunächst nur im Raum unserer täglichen Erfahrung. In diesem Sinne ist der Anfangszeitpunkt eine Grenze. Was davor liegt, kann Vieles sein, und Aussagen darüber sind im Grunde Aussagen über den persönlichen Geschmack des Sprechenden.

6. Das älteste Fossil ist nicht die Hintergrundstrahlung, sondern das Spektrum der Inhomogenitäten (der Verteilung der Galaxien und Galaxienhaufen), speziell auch in der Hintegrundstrahlung. Es deutet auf eine spezielle Phase konstanter Expansionsrate noch vor der Bildung der Elementarteilchen, zu deren Ende es aufgeprägt wird (als die Temperatur vielleicht 1028 K betrug). Ein weiteres Fossil ist die Asymmetrie zwischen den Dichten von Teilchen und Antiteilchen, die mit der Bildung der Elementarteilchen entstand. Es sollte aus einer Zeit stammen, als die Temperatur mehr als 1012 K betrug. Es ist die Aufklärung der Geschichte dieses Fossils, das mit dem LHC betrieben wird. Das dritte Fossil ist die Helium- und Deuterium-Konzentration im Universum, das von einer Zeit stammt, als die Temperatur einige 109 K betrug. Die Hintergrundstrahlung ist noch nicht so alt. Sie löste sich aus dem heißen Plasma, nachdem die Temperatur auf unter 4000 K gesunken war.

7. Wenn die Deutung des Inhomogenitätenspektrums als Ergebnis einer Phase inflationärer Expansion richtig ist, dann sorgt diese Phase zum Einen für einen definierten Zustand des Universums zu diesem Zeitpunkt und zum Anderen dafür, dass wir aus der Zeit davor nichts anderes wissen können, als dass die Entwicklung vor der Inflation die Inflation ermöglicht haben muss. Etwas Anderes als eine widerspruchsfreies Modell können wir nicht erwarten.

8. Die Karte (Anclicken vergrößert das Bild)



a) Dies ist eine Mercator-Karte des Universums. Die Geschichte der Galaxien ohne Peculiarbewegung sind als Vertikalen gewählt (Beispiel mittelstarke ockerfarbene Linien). Dadurch hat die Karte einen variablen Maßstab auf den Horizontalen (Beispiel dünne ockerfarbene Linien). Diese Horizontalen stellen die Linien konstanter kosmischer Zeit dar. Der Maßstab auf den Vertikalen ist dem horizontalen so angepasst, dass die Spur eines Lichtsignals immer die gleiche Neigung 1:1 hat. Das ist das Analogon zur Winkeltreue der gewohnten Mercator-Projektionen.

b) Der Punkt (genauer das Ereignis) B sei der Ort und Zeitpunkt hier und heute. Die Zeitachse ist dann unsere Geschichte. Das Licht, das uns aus dem Universum erreicht, hat die Spur JB, die auf dem Anfang der Zeit den heutigen Horizont J markiert. Das Licht von dort hat die Rotverschiebung unendlich. Die Orte der Rotverschiebungen 1, 10, 100 und 1100 sind markiert. Die Kurven in magenta sind Orte gleichen Abstands von der Zeitachse. (Die Distanz AG ist gleich der Distanz BC. Die Kurven haben die Gleichung χ ~ 1/a.)

c) Die Zeichnung zeigt, dass es bei t=0 ebenso viele Orte gibt wie zu späteren Zeiten. Der Zeitanfang ist kein einzelner Punkt und einen räumlichen Rand des Universums gibt es nicht. Das Universum ist auch bei t=0 unendlich.

d) Auf der Linie t=0 sind alle Distanzen Null. Der Horizont (heute J) aber wird mit der Zeit weiter. Für den Beobachtungszeitpunkt A lag er bei I, heute (B) liegt er bei J. Soll die Geschwindigkeit der Verschiebung an Ort und Stelle beschrieben werden, so ist sie Null, denn die Distanzen sind alle Null.

e) Die Expansion projiziert den Horizont auf ein Ereignis zum Beobachtungszeitpunkt: J auf E, I auf G. Diese Projektion bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit (von G nach E). Das ist aber keineswegs die Distanzvergrößerung von d[AC] auf d[OE]! Wollte man diese auf die Zeit beziehen, ergäbe sich ein Wert immer größer als die Lichtgeschwindigkeit, nämlich in der Grenze kleiner Differenzen (d[OE] - d[AC])/(t[B]-t[A]) = c + H d[OE]. Alle diese Geschwindigkeiten sind keine Relativgeschwindigkeiten, sondern nur formal berechnete Größen ohne physikalische Folgen.

f) Eine Relativgeschwindigkeit zwischen zwei Bewegungen drückt sich im Winkel zwischen den beiden Spuren zum Zeitpunkt ihres Schnittes aus. Wir müssen also die Winkel berechnen, die die mit roten Pfeilen markierten Richtungen am Ereignis B miteinander bilden. Der Vergleich von Richtungen an verschiedenen Punkten ist ein besonderes Problem, wenn wir mit Krümmung des Raums oder der Raum-Zeit rechnen müssen. Das zeigt schon der Vergleich der Nordrichtungen an verschiedenen Punkten der Erde. Wir müssen die Richtungen parallel zu dem Ort verschieben, wo der Vergleich stattfinden soll.

Da Lichtgeschwindigkeit immer Lichtgeschwindigkeit bleibt, muss dann Unterlichtgeschwidigkeit immer Unterlichtgeschwindigkeit bleiben. Alle roten Pfeile, parallel auf irgendeinem Wege nach B verschoben, zeigen dann eine Relativgeschwindigkeit kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, weil sie an ihrem Ursprungsort die Geschwindigkeit Null ausweisen. Allein am Rande kann als Ergebnis die Lichtgeschwindigkeit erreicht werden. Pfeile vom Anfang der Zeit, verschoben nach B, zeigen Lichtgeschwindigkeit an.

g) Verschiebt man die Pfeile an den heute beobachtbaren Objekten auf der Linie JB entlang dieser Linie parallel nach B, so ergibt sich dort eine Relativgeschwindigkeit, die mit der korrekten Formel für den Doppler-Effekt auch die korrekte Rotverschiebung liefert.

h) Das Gebiet rechts der mittelstarken dunkelgrünen Linie JB ist momentan unbeobachtbar, das Gebiet links davon hat uns bestenfalls Fossilien hinterlassen. Beobachtungen mit elektromagnetischer Strahlung erfassen heute ausschließlich die Ereignisse auf der unmittelbaren Umgebung der Linie JB. Das Gebiet rechts der mittelstarken hellgrünen Linie KL bleibt bis in alle Ewigkeit unsichtbar.