Fehlertoleranz im Standard

Sommer 2015, letzte Änderung 17.1.2016

Warum Fehlertoleranz? Wir wollen doch alles richtig lernen! Das gilt, aber wir wollen auch dann flott tanzen, wenn Konzentration und Körperbeherrschung nicht mehr oder noch nicht ausreichen. Da ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, welche Fehler die läßlichen sind und welche nicht.

Die meisten Figuren der Standardtänze finden sich in verschiedenem Stil in allen fünf. Es gibt wenige Figuren, die so stilprägend sind, dass Sie nur zu einem der Tänze passen, wie etwa die Hops und doppeltschnellen Chasses beim Quick. Deshalb kann man bei allen Figuren Stilfehler und Physikfehler unterscheiden. Stilfehler verderben den Effekt, Physikfehler den Ablauf der Figur. Zum Beispiel ist es ein Stilfehler, im Tango zu erheben, nur weil die entsprechenden Figuren im Langsamen Walzer oder im Foxtrott mit Erheben getanzt werden, aber eben deshalb kein Physikfehler. Andererseits ist es ein Physikfehler, wenn der Herr mit der Linksdrehung nicht auf die Dame wartet, denn das verdirbt die Figur in jedem Tanz.

Den Stil kann man wählen, entwickeln, ändern, gestalten. So ist das auch über die Jahre geschehen und so wird weiter geschehen. Die Physik lässt solche Gestaltung nicht zu. In diesem Sinne sind die Physikfehler die grundsätzlichen. Stilfehler lassen sich dagegen tolerieren. Wer Physikfehler vermeiden kann, tanzt fehlertolerant. Dass es überhaupt Physikfehler gibt, liegt selbst wieder am grundsätzlichen Stil, der im Standard nicht nur Bewegung am Platz, sondern Bewegung durch den Raum erwartet, und das nicht als Formation, sondern als Paar in geschlossener Haltung. Drehungen und Richtungswechsel sind unter dieser Bedingung an schlichte Physik gebunden. Das soll Gegenstand der folgenden Erörterungen sein.

Nicht als Formation tanzen heißt unter anderem, dass die Bewegungen nicht verabredet sind, sondern geführt werden. Das beobachtet man in reiner Form selten, ein Ziel ist es aber in jedem Falle. Ein Paar, das sich an bestimmte Figurenfolgen gewöhnt, ist immer in Gefahr, in verabredeten Tanz zu wechseln. Es ist ja auch durchaus ganz schön, ein paar auflockernde Tricks bereit zu haben. In der Paarbeziehung sieht man aber den Unterschied durchaus.

Führen kann nur einer von beiden, es sollte der kräftigere sein, wir nennen ihn den Herrn (das ist ganz geschlechtsneutral gemeint). Eine Hand des Herrn wird gebraucht, um eine geschlossene Haltung zu erreichen. Es ist traditionell die rechte. Wie wir noch sehen werden, erzwingt und ermöglicht das eine allgemeine Bewegung gegen den Uhrzeigersinn um die Tanzfläche. Die rechte Hand des Herrn begrenzt einen Raum, in dem sich die Dame mehr oder weniger unabhängig bewegen kann. Wo die linke Hand des Herrn und die beiden der Dame plaziert werden, ist eine Stilfrage, kein physikalisches Erfordernis. Nur breit sollte die Oberlinie sein, das erleichtert die Balance und glättet die Drehungen.

Der Herr plant und führt die Bewegung des Paares im Raum. Dazu muss er der Dame gestatten, sich an ihm zu orientieren, genauer an mindestens zwei Punkten, über die dann der Nachrichtenverkehr läuft. Das geht am besten, wenn die Dame in Richtung der haltenden Hand vor dem Herrn steht und die rechte Seite des Herrn und seine rechte Hand als Orientierungspunkte akzeptiert. Das ist physikalisch nötig, alle anderen Haltungswünsche sind nur Stilfragen. Dennoch erfordert allein schon diese Akzeptanz, dass erstens nur der vorwärts Tanzende antreiben darf, dass zweitens der rückwärts Tanzende sich zurückhalten muss, dass drittens die Dame keine aktive Rechtsdrehung beginnt, und dass schließlich der Herr zur Linksdrehung nur einladen darf.

Zurückhaltung heißt, dass der rückwärts Tanzende den Schritt des Partners nicht fordern und nicht vorwegnehmen darf. Beides gefährdet Balance und Haltung. Der Vorwärtsschritt des Partners soll natürlich zugelassen, mitgegangen und unterstützt werden. Ein Vorwärtsschritt dagegen kann immer kraftvoll (im Tango) oder schwungvoll sein. Mit Ausnahme des Tangos wird dabei in der Regel abgesenkt. Absenken ist also eine Stilfrage, obwohl es Physik ist, wenn man ausnutzt, dass Absenken zur Beschleunigung führt.

Wenn man den Partner rechts vor sich hat, ergibt eine Vorwärtsbewegung an dem etwas zurückhaltender rückwärts Tanzenden vorbei immer eine Rechtsdrehung, die deshalb auch natürliche Drehung genannt wird. Wenn man die Rechtsdrehungen einer Folge unterdreht, wird das Paar gegen den Uhrzeigersinn um den Saal gedreht. Nun darf die Dame nicht aktiv rechts herum drehen. Deshalb darf die Dame, wenn sie rechts vorwärts beginnt, nur mehr oder weniger geradeaus in den rechten Arm des Herrn hinein tanzen und sich nicht selbst um den Herrn herum drehen, damit die Balance nicht verloren geht und der Herr auch einen Federschritt rückwärts führen kann. Das wird in der Kombination aus überdrehtem Rechtskreisel und überdrehtem Kreuzschritt auch in den höheren Klassen noch gern geübt. Es ist am Herrn, die Bewegung der Dame zu unterstützen und zu steuern.

Eine Rechtsdrehung des Herrn verändert den Raum der Dame so, dass sie ebenfalls gedreht wird und sie deshalb weder aktiv drehen muss noch darf. Sie muss die Drehung nur zulassen. Zur Linksdrehung dagegen kann der Herr nur einladen, indem er den Raum mit der rechten Hand erweitert. Die Dame muss die Linksdrehung selbst wünschen und immer wünschen, damit sie eine solche sich bietende Gelegenheit auch entschlossen ausnutzen kann. Sie muss auch immer drehen so weit es geht. Die Varianten, die der Herr entscheidet, unterscheiden sich im Drehungsgrad, den der Herr zulässt. Der Herr begrenzt die Linksdrehung der Dame kraft seiner Nudelsuppe, um das Folgende einzuleiten. Er sollte immer etwas sauer sein, wenn die Dame die Führung nicht abwartet und die Drehung selbst beendet, indem sie etwa den Kopf nach rechts nimmt.

Damit kommen wir zur Promenade. Ihre Einleitung gehört zu den Rechtsdrehungen. Von der Absicht her will der Herr die rechte Seite der Dame wegdrücken, damit Platz für den Promenadenschritt (Herr mit dem rechten, Dame mit dem linken Fuß durch die Gasse) wird. Er muss das allerdings mit seiner linken Seite tun, die ihrerseits am Ende aber auch Platz machen muss. Wenn die Dame genügend reserviert ist, wird sie bei dieser Vorbereitung weiter auf die rechte Seite des Herrn geschoben, was vom Herrn mit einer Dehnung seiner rechten Seite unterstützt wird. Die Dame wendet nun den Kopf unter gleichzeitigem Wunsch, ihre rechte Seite nicht zu weit zu öffnen zu lassen, denn wenn sie Kopf und Korpus von allein dreht, dreht sie sich aus der Haltung heraus. Das wäre ein Fehler gegen die Physik. Man sieht es aber oft. Warum geht es dann glatt? Das liegt daran, dass die Promenade eben verabredet ist und überhaupt nicht geführt werden muss. Das heißt, die Verabredung führt, und der Herr lässt sich das gefallen. Wir erwarten aber, dass der Herr führt und nicht die Verabredung.

Rechtsdrehungen des Herrn sind wie eine Frage, die die Dame mit Linksdrehung beantworten möchte. Weil sie also in Vorbereitung des Promenadenschritts eine Rechtswendung zulassen muss, soll sie nach dem Promenadenschritt wieder Gelegenheit zur Linksdrehung haben: Sie soll die Haltung wieder aktiv schließen und den Kopf wieder nach links nehmen. Sie soll es selbst und entschlossen tun, damit der Herr auch in einen Big top oder einen Telespin führen kann. Es ist Sache des Herrn, diesen Antrieb aufzunehmen und gegebenenfalls auch in eine Rechtsdrehung aufzulösen, indem er sich in den Weg stellt und den Impuls der Dame mit seiner Körpermitte auffängt. Auch dann muss die Dame sich nach dem Promenadenschritt in eine Linksdrehung über die Gegenüberstellung hinaus wünschen: Die Dame dreht sich relativ zum Herrn, die Drehung des Herrn dagegen ist immer Drehung des Paares gegen den Raum und überlagert sich dabei der Drehung der Dame. - Der Promenadenschritt selbst ist für die Dame ein entschlossener Vorwärtsschritt, für den Herrn ein (relativ zu seinem Körper) zurückhaltender Seitwärtsschritt (Gegenbewegung), und das auch noch am linken Fuß vorbei. Der Herr verdirbt aber die Promenade, wenn er sich zu weit in die Promenade öffnet, um es bequemer zu haben. Das wäre ja auch eine Linksdrehung, die er nicht selbständig beginnen darf.

Wenn mit dem Promenadenschritt die neue Figur beginnt, ist die Öffnung zur Promenade das Ende einer Figur, die immer auch geschlossen enden könnte (Telemark, Impetus, außenseitliche Wechsel, Links). Das heißt: Erst mit dem letzten Schritt entscheidet sich, ob eine Promenade folgt. Wenn die Dame den Kopf vorher wendet, geschieht Verabredetes, nicht Geführtes. Man sieht das oft. Es ist daher immer ein Aha-Erlebnis, wenn man sieht, dass die Dame beim vorletzten Schritt noch nach links in den Arm des Herrn hinein will. Es sieht nicht nur toll aus, es fühlt sich für den Herrn auch toll an. Ich nenne das Isabel-Effekt, weil es mir in Travemünde so richtig klar geworden ist.

Die physikalischen Grundsätze ermöglichen Gesellschaftstanz, das heißt Tanz mit verschiedenen Partnern. Tanzt man nur mit einem festen Partner, wie in Einzelwettbewerben sogar Bedingung, kann man Verabredung kaum vermeiden. Verabredung kann das Gesamtbild verbessern, indem sie die Stellen unsicherer Führung glättet und Tempo und Tricks ermöglicht, die gar nicht geführt werden können, weil sie der Dame keine Reaktionszeit lassen. Die physikalischen Grundsätze sichern aber den Fluss im Ablauf auch bei Konzentrationsmangel, Platzmangel, Fehlern in den Füßen, Fehlern in der Haltung. Was geschieht denn, wenn ein Folge abgebrochen werden muss, obwohl alles verabredet ist? Sind die Grundsätze nicht verinnerlicht, wendet sich die Dame fragend zum Herrn. (Das passiert auch Tanzlehrerpaaren, wenn er mal etwas demonstrieren will, was er mit ihr vorher nicht richtig abgesprochen hat.) Wendet sich aber die Dame zum Herrn, ist das ist eine Rechtswendung, die es dem Herrn überhaupt unmöglich macht, richtige Führungsimpulse zu geben. Wendet sich die Dame dagegen nach links, in den rechten Arm des Herrn hinein, gibt sie dem Herrn Sicherheit, kann sie gegebenenfalls die Führungsimpulse aufnehmen, und erzeugt eine langsame, aber doch merkliche Bewegung des Paares, auch wenn der Herr noch gar nicht weiß, was er will. Die Dame frage also nicht den Kopf, sondern den Arm des Herrn.

Fassen wir zusammen.

1. Vorwärtsschritte erfordern Entschlossenheit, ob mit oder ohne Schwung. Der Promenadenschritt der Dame (nicht der des Herrn) ist ein solcher Vorwärtsschritt. Der Folgeschritt behält die Bewegungsrichtung bei.
2. Rückwärtsschritte erfordern Zurückhaltung. Der Partner soll das Zeitmaß und die Schrittlänge wählen und auch überholen können.
3. Rechtsdrehungen sind Verantwortung des Herrn. Er muss im Vorwärtsschritt soviel wie möglich die natürliche Drehung nutzen, die allein durch Überholen auf der freien Seite zustande kommt, und beim Rückwärtsschritt den Impuls der Dame in die gewünschte Drehung lenken. Das kann er nur, wenn die Dame nicht aktiv dreht, sondern sich drehen lässt. Die Dame tanzt bei Rechtsdrehungen nur in den rechten Arm des Herrn hinein, nicht um den Herrn herum.
4. Linksdrehungen sind Verantwortung der Dame, weil sie nur gelingen können, wenn die Dame alle Gelegenheit zur Linksdrehung entschlossen nutzt. Sie werden vom Herrn begrenzt (beendet), nicht von der Dame.
5. Die Promenade ist ein entschlossener Vorwärtsschritt der Dame, verbunden mit der Entschlossenheit, die Haltung im Folgeschritt durch Linksdrehung wieder zu schließen. Erst im letzten Schritt vor der Promenade wird der Kopf in die Promenade gewendet. Im vorletzten Schritt muss die Haltung durch eine Linksorientierung der Dame gesichert werden.

Zum Schluss ein Beispiel. Nehmen wir im Langsamen Walzer die elementare Folge aus Rechtsdrehung vorwärts, überdrehtem Rechtkreisel, überdrehtem Kreuzschritt zur Promenade, Flechte. Der Herr beginnt die Rechtsdrehungen mit entschlossenem Vorwärtsschritt, so dass der Folgeschritt mit leichter Drehung, aber gleicher Richtung an der Dame vorbei geht. Die Dame dreht nicht im eigenen Antrieb, sondern versucht, im rechten Arm des Herrn zu bleiben. Ohne besondere Anstrengung erreicht das Paar die Position, in der die Dame in Tanzrichtung vorwärts weitertanzen kann. Jetzt kann die Dame zwei Vorwärtsschritte am Herrn vorbei tanzen. Im ersten wartet der Herr ab, um im zweiten vorwärts der Dame hinterher zu tanzen. Dabei kommt es darauf an, wohin er den rechten Fuß genau setzt, denn danach richtet es sich, ob der Kreisel unterdreht endet oder überdreht werden kann. Ist die Überdrehung gelungen, muss der Herr die Drehung durch Absenken auf dem linken Fuß beenden und in Linearbewegung umlenken.
Wieder ist nun die Dame vorwärts dran, allerdings mit dem linken Fuß, der eigentlich zur Einleitung einer Linksdrehung eingesetzt wird. Die lässt der Herr hier aber nicht zu, und so kommt es zu einem Kreuzschritt, den der Herr mit einer leichten Rechtsdrehung fortsetzt. Die Dame muss dabei immer noch in den rechten Arm des Herrn ohne Rechtsdrehung hinein wollen, auch wenn sie weiß, das der nächste Schritt ein Promenade schräg vorwärts zur Mitte einleitet. Erst dann, nicht vorher, kann der Herr die Vorbereitung führen und die Dame den Kopf nach rechts nehmen.
Nun wird die Flechte mit einer Promenade eingeleitet. Die Dame geht entschlossen vorwärts und dreht dann nach links. Der Herr entscheidet mit dem Grad seiner Zurückhaltung, wie weit die Drehung geht. Hält er sich sehr zurück, wird es ein Telespin, etwas weniger Zurückhaltung, und es wird ein big top, noch weniger Zurückhaltung und es wird die Promenadenlinksdrehung, die wir jetzt tanzen wollen. Auch über das genaue Ende dieser Drehung entscheidet der Herr mit dem Platz, auf den er den linken Fuß im Folgeschritt stellt. Nun ist die Dame mit dem rechten Fuß zu einem außenseitlichen Vorwärtsschritt dran. Außenseitliche Schritte enthalten selbst schon eine leichte Rechtsdrehung, nämlich die Einnahme der Gegenbewegungsstellung, und werden deshalb mit einem Linksdrehungswunsch der Dame beantwortet. Auch wenn die Dame weiß, dass der außenseitliche Wechsel eine Promenade vorbereiten soll, darf sie den Kopf nach dem außenseitlichen Vorwärtsschritt nicht gleich nach rechts nehmen, sondern muss sich nach links in den Arm und die Führung hinein wenden, damit der Herr auch wirklich im letzten Schritt den Impuls zur Vorbereitung der Promenade geben kann.


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