Der Michelson-Versuch und die Familie seiner Missverständnisse
Dierck-E.Liebscher, Potsdam
Es gibt nur wenige mit Namen zitierte Experimente, die den Weg nicht nur in die Lehrbücher, sondern auch bis in die Schulbücher geschafft haben. Der Michelson-Versuch ist der bekannteste von ihnen, weil er als Grundlage der Relativitätstheorie gilt. Die Relativitätstheorie
genießt eine besondere Achtung und trägt die Attribute schwierig und genial.
In diesen Begründungen verbergen sich bereits hundert Jahre alte didaktische Verkürzungen,
deren Entflechtung wichtige Fragen stellt und erstaunliche Antworten zu Tage fördert.
Wer vom Michelson-Versuch schon einmal gehört hat, weiß, dass Michelson den Fahrtwind im Äther messen
wollte, den die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne erfahren sollte.
Er weiß auch, dass sich die Relativitätstheorie auf ihn
beruft, weil der Fahrtwind nicht gefunden wurde. Unbeschrieben bleibt, was der Äther soll, warum der
Fahrtwind im Keller gesucht wurde und wieso das Ergebnis mit der Relativitätstheorie zu tun hat.
Was ist, was soll ein Äther?
Wir lesen meist, der Äther werde benötigt, um die Lichtwellen zu erklären.
Lichtwellen bedürften eines Trägermediums, dessen Schwingungen das Licht sind
und in dem sie sich als Wellen ausbreiten.
Das ist aus strenger Newtonscher Sicht überflüssig.
Schließlich braucht das Schwerefeld auch keinen Träger.
Der Wunsch nach einem realen Modell für die Zwischenschritte einer Theorie
ist der wissenschaftlichen Methode ohnehin wesensfremd. Das bedeutet nicht, dass das
in der Vergangenheit so gesehen wurde.
Ein mechanisches Modell wie ein Trägermedium ist dennoch zunächst immer ein Privatvergnügen,
auch wenn eine Analogie zur Ausbreitung der Schallwellen naheliegt. Wie wir
gleich sehen werden, gibt es aber einen wichtigen Grund für die Annahme eines Äthers.
Missverständnis Nummer 1: Der Äther bricht das Relativitätsprinzip.
weil er ein universelles Bezugssystem bereitstellt
Eher das Gegenteil ist richtig. Unterstellt man die additive Zusammensetzung der
Geschwindigkeiten auch für die Ausbreitung der Welle, dann gibt es genau ein Bezugssystem,
in dem die Ausbreitung isotrop ist.
Diese Auszeichnung ist mit dem Galilei zugeschriebenen Relativitätsprinzip
nur dann vereinbar, wenn das Isotropiesystem an ein
materielles Objekt gebunden ist, das dann
Äther genannt wurde. Jede anisotrope Ausbreitung zeigt dann eine
relative
Geschwindigkeit, nämlich die gegen diesen Äther, und Galileis Relativität
ist gerettet.
Besondere universelle Bezugssysteme, die an universelle Materiekomponenten gebunden sind,
stören die Relativität der Geschwindigkeit nicht. In der Astronomie kann man das Bezugssystem
der fernen Galaxienhaufen benutzen und messen, dass wir uns gegen diese mit etwa 500 km/s bewegen.
Das gleiche gilt für das Bezugssystem der Hintergrundstrahlung, ähnliche Geschwindigkeit,
ähnliche Richtung. Mit der Lichtausbreitung haben diese Bezugssysteme aber nichts zu tun.
Warum suchte Michelson den Fahrtwind ausgerechnet im Keller?
Zunächst erwartet man von einem materiellen Medium, dass es von anderen Objekten
irgendwie beeinflusst werden kann, dass es durch geeignete Wände aufgehalten werden kann. Es war lange Zeit Gegenstand der Diskussion, welche physikalischen Eigenschaften der Äther noch hat. Sie war fruchtlos. Schlimmer noch:
Da gibt es einen kleinen Effekt (den ersten Effekt der Hochgeschwindigkeitsphysik):
die Aberration des Sternenlichts. Die Aberration wird allgemein als Regenschirmeffekt
erklärt: ein Teilchenstrom ändert seine scheinbare Richtung, wenn man sich in ihm bewegt.
Die Sterne scheinen im Gesichtsfeld zusammenzurücken, wenn man sich vorwärts bewegt.
Die Größenordnung des Effekts ist v/c approx 10-4, also etwa 20 arcsec.
Nun ist das Licht aber eine Welle, und bei additiver Zusammensetzung der Geschwindigkeiten
bleibt die Richtung der Wellenfronten unverändert: Lichtwellen zeigen keine
Aberration der Wellenfronten. Fresnel fand eine Ausrede: Er berief sich auf die Tatsache,
dass in einem herkömmlichen Teleskop nicht die Wellenfronten,
sondern nur die von der Aperturblende generierten Ausschnitte beobachtet werden,
die sich wie Schaumkronen auf den Wellen verhalten und
Aberration zeigen. Dazu muss allerdings das Isotropiesystem universell sein, dann darf der Äther also
durch Wände weder gehindert noch gebremst werden. Das war für Fresnels Zeitgenossen eine
schwer verdauliche Schlussfolgerung, schwerer als heute, da wir nun Neutrinos kennen.
Michelson wollte also einen frei durch die Wände flutenden
(in der Literatur als "stationär" bezeichneten) Äther
finden, und so baute er seine Versuchapparatur im Keller auf. Er fand nichts frei Flutendes.
Später hat er dann versucht, diesen Äther wenigstens im Freien und auf Bergen zu finden,
aber alles war vergeblich. Der Michelson-Versuch zeigt, dass die Lichtausbreitung im Keller isotrop ist.
Der Äther wird also durch die Wände eingeschlossen.
Die Erklärung der Aberration des Sternenlichts ist wieder offen.
Missverständnis Nummer 2:
Das Ergebnis wird durch die Längenkontraktion erklärt
Das wird auch in Wikipedia besinnungslos abgeschrieben. Wenn man Einsteins Axiom akzeptiert,
kann das Experiment keinen Effekt liefern und jede weitere Erklärung ist sowohl
überflüssig als auch falsch
(Jede Frau weiß, wenn der Mann zwei Entschuldigungen hat, ist wenigstens eine gelogen).
Die Längenkontraktion muss nur dann unterstellt werden, wenn man an der additiven Zusammensetzung der
Geschwindigkeiten festhält, also die Relativität der Gleichzeitigkeit vermeiden will.
Dann ist die Längenkontraktion aber auch keine Erklärung, weil sie nicht überprüft werden kann:
Das einzige Instrument, das so genau misst, ist gerade das Interferometer.
Missverständnis Nummer 3:
Der Michelson-Versuch zeigt, dass es keinen Äther gibt
So kann man es gelegentlich lesen, aber genau das Gegenteil ist richtig.
Ein frei flutender Äther ist dynamisch einem universellen Bezugssystem äquivalent.
Wenn es keinen Äther gibt, ist das Isotropiesystem eine Eigenschaft des leeren Raums (und das bricht dann das Relativitätsprinzip). Dann muss man eine Anisotropie auf der bewegten Erde
finden. Findet man keine, muss es einen Äther geben, der wie die Lufthülle von der Erde mitgenommen und im Keller
eingschlossen wird. Das war auch Michelsons Schluss. Er setzt ja immer noch
die additive Zusammensetzung der Geschwindigkeiten voraus,
deren Unzulänglichkeit erst mit der Relativitätstheorie aufgedeckt wurde.
Missverständnis Nummer 4:
Einstein hat seine Kenntnis des Michelson-Versuchs verschwiegen
Das war die mediale Aufregung von 2005, ist aber sicher falsch.
Einstein hat den Michelson-Versuch nicht explizit genannt, sondern nur in einer summarischen Abrechnung mit
anderen Versuchen ähnlicher Zielrichtung.
Es ging Einstein nicht um die Aberration. Dafür haben sich Lorentz und Drude interessiert,
die schon vor 1900 die Notwendigkeit einer formalen Zeit feststellten,
in der die Gleichzeitigkeit relativ ist.
Die Relativität der Gleichzeitigkeit und die berühmt gewordenen Lorentz-Transformationen
sind eine Folge der Forderung, dass die Wellenfronten selbst Aberration zeigen sollen. -
Einstein ging es um die Maxwellschen Gleichungen,
die bei additiver Zusammensetzung der Geschwindigkeiten ganz merkwürdige Formen annehmen.
Die Maxwellschen Gleichungen enthalten nämlich einen
Geschwindigkeitsbetrag als Konstante,
eine Geschwindigkeit also, die sich keinesfalls irgendwie mit einer
wie üblich gerichteten Geschwindigkeit
zusammensetzen kann. Diese ungerichtete Geschwindigkeit wurde
bereits von R.Kohlrausch und W.Weber bei
dem Versuch gefunden, das Verhältnis der elektrostatisch und magnetostatisch
definierbaren Einheiten der elektrischen Ladung zu bestimmen.
Hier knüpft Einstein's Axiom an, dass es eine Geschwindigkeit
(die Lichtgeschwindigkeit) gibt, deren Betrag bei Zusammensetzung
mit anderen Geschwindigkeiten konstant bleibt.
Nachdem Michelson für die Interferometertechnik den Nobelpreis erhalten hatte, geriet
die elementare Erklärung, die die Relativitätstheorie für den Ausgang des Michelson-Versuchs
hatte, in eine neue Position. Sie diente von nun an als einfachster Einstieg in die Relativitätstheorie
und wurde in dieser Funktion auch von Einstein benutzt und gefeiert.
Wer sich nicht besonders für die logische Struktur eines Beweises interessierte,
sah im Ausgang des Michelson-Versuchs sogar den Beweis, dass die Isotropie der Lichtgeschwindigkeit
durch Zusammensetzung mit anderen Geschwindigkeiten nicht gestört wird. Dem hat Michelson zu Recht
zeit seines Lebens widersprochen.
Missverständnis Nummer 5:
Der Michelson-Versuch beweist die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
Das geht nun überhaupt nicht.
Einmal ist mit Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nur gemeint, dass sich der Betrag der
Lichtgeschwindigkeit bei Zusammensetzungen nicht ändert.
Die räumliche und zeitliche Konstanz ihres Betrags ist eine andere Frage.
Generell kann ein Versuch eine Theorie nicht beweisen, weil
eine Theorie im allgemeinen für nicht abzählbare Einzelfälle gelten muss, die
keinesfalls je nachgeprüft werden können. Ein Versuch kann nur zwei Ergebnisse haben.
Entweder die Theorie erklärt ihn, dann widerspricht ihr der Versuch nicht. Wenn
das Ergebnis des Versuchs
unerwartet ist, oder sein unerwarteter Ausgang vorhergesagt werden konnte, ist er
natürlich eine Stütze der Theorie,
aber eben nur eine Stütze, kein Beweis. Ist der Ausgang des Versuch allerdings nicht mit
der Theorie vereinbar, dann hat er Beweiskraft: Er zeigt, dass die Theorie falsch
oder zumindest ungenau ist. Der Michelson-Versuch beweist, dass der Schluss auf den
frei flutenden Äther von Voraussetzungen ausgeht, die nicht zutreffen.
Experimente inspirieren bestenfalls gescheite Hypothesen und testen sie dann.
Ein Test ist aber immer ein Vergleich verschiedener Hypothesen, zwischen denen entschieden werden soll.
Was ein Test also zeigt, hängt von den zugelassenen Hypothesen ab.
Ohne Hypothesen zeigt ein Test überhaupt nichts.
Missverständnis Nummer 6:
Die Relativitätstheorie ist auf den Michelson-Versuch angewiesen
Dieser Irrtum lässt Hunderte von Amateuren glauben, sie könnten
die Relativitätstheorie widerlegen, indem sie Hypothesen konstruieren, die das Ergebnis des
Michelson-Versuchs erzeugen oder den Michelson-Versuch aus anderer Sicht analysieren.
Diese Versuche sind vergeblich, weil es der Relativitätstheorie gar nicht
in erster Linie darum geht, das Ergebnis des Michelson-Versuchs zu erklären.
Die Relativitätstheorie erklärt es aber,
und so sind alle Zusatzkonstruktionen widerlegt, weil sie -- draufgesattelt --
falsche Ergebnisse liefern müssten.
Missverständnis Nummer 7:
Es gibt nur Effekte zweiter Ordnung
Der beim Michelson-Versuch erwartete Effekt ist zweiter Ordnung in v/c, der Geschwindigkeit (der Erde),
gemessen mit der Lichtgeschwindigkeit als Einheit. Längenkontraktion, Zeitdilatation,
Geschwindigkeitsabhängigkeit der trägen Masse usw. sind alles Effekte zweiter
Ordnung. Deshalb kann man gelegentlich lesen, der Unterschied der Ergebnisse der Relativitätstheorie
zu den Ergebnissen anderer Konstruktionen sei zweiter Ordnung
in der Geschwindigkeit. Das ist nicht richtig.
Einmal ist die Aberration des Sternenlichts (genauer der Wellenfronten) ein Effekt erster Ordung:
Er ist proportional der Geschwindigkeit und er fehlt bei additiver Zusammensetzung der Geschwindigkeiten.
Zum andern kann die von Michelson gesuchte Driftgeschwindigkeit auch in erster Ordnung von v/c beobachtet werden.
Das ist im Versuch von Issak und Mitarbeitern geschehen, der eine Genauigkeit 10-10 erreicht hat.
Schließlich gibt es auch Effekte nullter Ordnung, wo überhaupt keine Geschwindigkeit eingeht und
die Struktur der Theorie allein zu Voraussagen geführt hat, die glänzend bestätigt worden sind.
Die sind die Voraussagen des Teilchenspins und der Antiteilchen. Beides sind
charakteristische Prognosen der Relativitätstheorie und deshalb auch
ihre wichtigsten Stützen. Es ist noch nicht gelungen, eine alternative Theorie zu finden,
die diese Voraussagen gleichermaßen bereithält.