Tanzen ist ein Dialog
seit 2009, letzte Änderung 17.1.2016
Der reine Paartanz, unzutreffend und etwas abschätzend Standard genannt, ist etwas Besonderes. Hier sollen sich
zwei Personen wie eine Einheit über die Tanzfläche bewegen, leicht und ohne Reibung.
Wenn es richtig läuft, hält der Betrachter den Atem an und das Paar ist entrückt.
Eine solche gemeinsame Bewegung kann nicht durch Choreographie allein erzeugt werden.
Sie bedarf einer Abstimmung zwischen den
Partnern während des Tanzens selbst. Wie vollzieht sich aber diese Abstimmung, dieses wortlose Verstehen, das dem Paar ermöglicht, zu einer Einheit zu verschmelzen und dabei noch mit Vollgas über das Parkett zu rauschen?
Es ist der Körperkontakt, die Tuchfühlung, über die sich ein nie abreißender Dialog abwickelt, der den Stil des Tanzens bestimmt. Es ist durchaus nicht so, wie oft zu hören (und zu sehen), dass der Herr alles bestimmt und die
Dame einfach nur mitgeht, wohin der Herr will. Der Herr kann, wie wir gleich sehen werden, zwar zu jeder Bewegung einladen, aber er kann nur Rechtsdrehungen (natural turns)
wirklich erzeugen. Linksdrehungen (reverse turns) gehen nur mit Initiative der Dame. Die Dame muss also mit eigener Initiative auf die Einladungen des Herrn antworten. Die Dame ist Partner des Herrn, nicht sein Sportgerät.
Die Bewegungen, die dem Standard seine Außergewöhnlichkeit verleihen, sind einzeln nicht möglich.
Der Herr führt, aber er muss führen, was die Dame tanzen kann und möchte. Führung heißt nicht Monopol auf Tempo und Schrittlänge. Tempo und Schrittlänge bestimmt immer der, der den Partner in der
Bewegungsrichtung vor sich hat.
Tuchfühlung muss sein. Tuchfühlung allein macht aus zwei Partnern ein Paar. Tuchfühlung allein ermöglicht Tanzen ohne verabredete Choreographie. Ohne Tuchfühlung muss eine Choreographie verabredet sein: dann haben wir nicht mehr Paartanz, sondern eine Zweierformation.
Festhalten ist aber immer falsch. Der Herr hält die Dame nicht fest, sondern fixiert mit dem rechten Arm (möglichst weit) den Raum, in dem sie sich bewegen kann.
Die Dame schließt die Haltung durch aktives Andocken an der
rechten Hand und die rechte Seite des Herrn. Beide Punkte muss
die Dame immer suchen, wenn sie denn Lust zu tanzen hat. Die Dame hält sich also nicht mit den Händen fest,
auch wenn diese zu Korrekturen benutzt werden.
Aus der Tuchfühlung ergeben sich drei
Grundsätze, die sich durch alle Figuren ziehen.
Tempo und Schrittlänge bestimmt immer der, der den Partner in der
Bewegungsrichtung vor sich hat, sonst fällt die Haltung
oder die Balance auseinander. Auch kann der Herr jetzt nur rechts herum drehen,
links herum muss er warten, muss er sich drehen lassen:
er kann durch die
Führung die Dame zur Linksdrehung nur einladen.
Dreht er nach links, ohne dass die Dame dazu bereit ist, geht der Körperschluss verloren, oder er wendet Kraft an.
Die Dame ihrerseits kann links herum drehen, aber rechts herum muss sie sich drehen lassen.
Dreht sie nach rechts, ohne dass der Herr dies führt, geht der Körperschluss verloren. Da nützt auch aller Druck nichts. Ein Spezialfall dieses Problems ist das Kopfwenden der Dame in die Promenade, mit dem die Dame warten muss, bis der Herr sie dazu einlädt.
Wie entsteht nun ein Dialog? Ganz einfach, so scheint es. Hier ist aber nicht das
unendliche Thema gemeint,
wer Schuld hat, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll. Dieses Thema gehört
nicht auf die Tanzfläche und läuft ohnehin immer ins Leere. Es gibt keine Schuld
an speziellen Fehlern. Kleine Ungenauigkeiten sind es, die sich - wenn im Lauf der Folge nicht kompensiert - so aufschaukeln, dass irgendwann die Dame oder der Herr die Bewegung nicht mehr so weiterführen
kann wie nötig oder gewollt. An dieser Stelle
gibt es dann nur noch Opfer und von Schuld kann überhaupt nicht mehr die Rede sein.
Der Dialog, der hier gemeint ist, entspinnt sich am deutlichsten beim Wiener Walzer. In jedem Takt beantwortet der vorwärts Tanzende den Schub des Partners, den dieser im Takt davor geliefert hat,
während der rückwärts Tanzende nur einen abwartenden Schritt
rückwärts setzt und sich lieber etwas mitnehmen lässt.
Ganz allgemein darf man nicht aktiv vom Partner weg, also speziell nicht rückwärts tanzen,
rückwärts muss man sich tanzen lassen. Für die Schrittgröße ist immer der verantwortlich, der den Partner in Bewegungsrichtung vor sich hat. Je nach Drehung kann sogar nach jedem Schritt
diese Verantwortung wechseln. In der Rechtsdrehung des Walzers wird beim Schritt rückwärts der Partner vorbeigelassen, dann aber kann der nun Zurückgebliebene den Seitschritt mit eigenem Schwung führen, darf dabei aber den Partner auf keinen Fall überholen.
Er muss eine Stellung erreichen, die ihm im Folgetakt selbst wieder erlaubt, den richtigen Schub zu entwickeln.
Wer sich etwas vorzählen muss, wähle an Stelle von eins zwei drei vier fünf sechs den Text
ich bin dran du bist dran.
Der Dialog beginnt aber immer schon vor dem Tanzen selbst. Wer zum Tanz bittet, muss das auch zum Ausdruck bringen. Leider gibt es auch in den höheren Klassen gelegentlich Paare, die sich keiner freundlichen Geste und keines freundlichen Blicks würdigen, weil sie
meinen, das lenke von der Konzentration ab. Der ganze Tanz sieht dann meist auch nach Coppelia aus. Wenn der Herr mit der Dame tanzen will, dann muss er schon zeigen, dass ihm Freude bereitet, was ihn erwartet.
Die Dame sollte das natürlich auch tun. Und wenn der Herr den Raum der Dame mit seinem
rechten Arm fixiert, dann sollte sie ihm auch zeigen, dass sie sich gern von ihm halten lässt und mit ihrer rechten Hüfte und ihrer linken Schulter Kontakt zu seiner
rechte Hüfte und seiner rechten Hand suchen. Ihr hilft das, sich natürlich nach links zu wenden. Ihm hilft es, die Körperspannung zu entwickeln, ohne die
er die Dame nun nicht führen kann.
(Will der Herr durch eigenen Einsatz mangelnden Kontakt zu seiner
rechten Hand kompensieren, verengt er den Bewegungsbereich der Dame,
verlässt seine Schulterlinie und verdirbt Haltung und Bewegung.
Körperkontakt ist Sache der Dame, nicht des Herrn.)
Wir haben gelernt, die Grundbewegung mit einer Rechtswendung
zu beginnen. Mit dieser Wendung fragt der Herr die Dame,
ob sie tanzen möchte.
Im hoffentlich positiven Fall antwortet die Dame mit einer Linkswendung in seinen rechten Arm hinein. Diese Linkswendung mündet in den
Vorbereitungsschritt zum ersten Takt und bringt das Paar in die Lage, die einleitende Rechtsdrehung mit vollem Schwung zu entwickeln. Die Dame weiß natürlich, dass ein Rückwärtschritt mit
dem linken Fuß nur eine Rechtsdrehung ergeben kann und stellt
dann den in der Vorbereitung angedeuteten Wunsch erst einmal zurück.
Eine flüssige Schrittfolge wird im allgemeinen der Dame gestatten, eine Rechtsdrehung durch den Herrn mit einer
Linksdrehung zu beantworten. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür sind die Promenaden.
Die Vorbereitung einer Promenade, die Führung in die Promenadenstellung ist eine Rechtsdrehung und damit Sache des Herrn. Es gibt nur einen Weg dafür: der Herr muss seine linke Hüfte nach vorn bringen und die rechte Seite dehnen, auch wenn das nur
ganz sacht und unscheinbar geht. Dreht die Dame allein in die Promenadenstellung, weil sie weiß, dass diese jetzt an der Reihe ist, dreht sie aus der Haltung heraus und der Herr neigt dazu, in der rechten Schulter abzuknicken. Das vereinfacht den Wertungsrichtern die Entscheidung, auf ein Kreuzchen zu verzichten. Der Innenschritt in die Promenade, der die rechte Hüfte der Dame zwingt, den Kontakt mit dem Herrn aufzugeben,
muss nun von der Dame mit einem manchmal auch energischen Schließen der Haltung und Drehung des Kopfes in die
Normalposition beantwortet werden. Das ist für die Dame eine Linkswendung, also auch ihre Verantwortung. Diese Linkswendung ist selbst dann nötig, wenn die Promenade zu einer Rechtdrehung des Paares führen soll (Telewischer, Chase, außenseitliche Rechtsdrehung). Das ist nicht paradox, denn der Herr stellt sich bei dieser Bewegung auf das linke Bein, und wenn ihn die
Hüfte der Dame im Zentrum oder auf der rechten Seite trifft, kann sie ihn in der Rechtsdrehung sogar unterstützen. Unabhängig davon dreht sie sich aber in die Führung des Herrn, und das kann er nur gut finden.
Wenn die Dame merkt, dass der Herr die Folge unterbrechen muss
oder in anderer Weise unsicher wird, kann sie den Herrn unterstützen,
wenn sie darauf achtet, dass sie für deutlichen Kontakt zur rechten Hand und zur rechten Seite sorgt:
Dann kann sie die Führung in die neue Figur auch schnell genug spüren.
Es sind die rechten Hüften, über die die Abstimmung laufen muss.
Eine Dame, die sich fragend nach rechts zum Herrn dreht, kann man
zwar verstehen, aber sie dreht sich dabei aus der Haltung heraus und darf sich dann nicht wundern,
dass sie keine Führung spürt. Statt den Kopf zu fragen,
muss sich die Dame nach links hinausdrehen und die rechte Hand und Hüfte des Herrn fragen.
Ein wünschenswerter Nebeneffekt ist dabei, dass das Paar in sanfter Bewegung bleibt,
während der Herr überlegt, was er nun tun soll.
Je besser die Dame eingeklinkt ist, desto sicherer kann sie die Führung lesen
und desto sicherer und freier fühlt sich der Herr.
Natürlich hilft das alles nur, wenn der Herr schließlich weiß,
was er will, und das ist ja durchaus nicht immer der Fall.
Dierck-E.Liebscher
www.dierck-e-liebscher.de/
Zusätze
- Die meisten Figuren (zumindest alle, die man in den unteren Klassen lernt) beginnen mit
einem Schritt, in dem die Bewegung angeschoben wird. Er ist deshalb mehr oder weniger stark abgesenkt
und geht vorwärts. Wenn die Figur nicht verabredet ist, liegt sie in diesem Moment auch noch nicht fest.
Was also tun, damit die Dame nicht überrascht wird? Zunächst:
Wer vorwärts dran ist, liefert den Schwung: er muss Gas geben und den zweiten Schritt
mehr oder weniger seitwärts in die Richtung schwingen lassen, die der erste Schritt vorgegeben hat.
- Wer rechts vorwärts dran ist, muss dabei den Partner überholen, damit dieser auf der richtigen Seite bleiben kann. Dadurch ergibt sich natürlich eine Rechtdrehung,
deren Ablauf im Einzelnen vom Herrn mit dem zweiten Schritt gesteuert wird.
- Der Partner ist dann links rückwärts dran. Er muss sich zurückhalten
und warten, dass der vorwärts Tanzende überholt, auch wenn er gegebenenfalls (d.h. als Herr) die Entscheidung
über den weiteren Ablauf der Figur hat.
- Wer links vorwärts dran ist, kann sich nun nicht darauf verlassen, dass sich die Linksdrehung durch Überholen allein ergibt: er darf ja nur dann überholen, wenn sich der
Partner von allein dreht, sonst steht er zum Schluss auf der falschen Seite. Von allein
links herum drehen darf aber nur die Dame. Besonders nach dem Innenschritt der Promenade muss
sie das auch: Sie muss bereit sein, die Promenade zu schließen.
- Wer rechts rückwärts dran ist, erwartet zwar auch den Drive durch den vorwärts
Tanzenden, muss aber selbst darauf achten, dass er auf der richtigen Seite bleibt. Ist es die Dame,
die rechts rückwärts tanzt,
muss sie anderthalb Linksdrehungen ermöglichen,
wenn der Herr etwa einen Linkskreisel mit anschließender Linksachse führt.
- Es gibt viele Äußerungen zur Bedeutung der richtigen Fußtechnik
und Fußführung. Mir scheint, es wird zuviel über die Stellung im Raum oder zur eigenen
Person geredet und zu wenig über die Notwendigkeit,
die Fußführung nach dem Partner
und seiner tatsächlichen Bewegung zu richten.
Wenn z.B. aus einem Rechtskreisel das Richtige werden soll,
muss der rechte Fuß des Herrn sich im zweiten Schritt nach dem Ort richten,
wo die Dame den linken Fuß tatsächlich aufsetzt.
Nur dann kann die dadurch entstehende Drehung den gewünschten Grad erreichen,
ohne dass die Dame auf der falschen Seite des Herrn endet.
Das ist bei Rechtsdrehungen merkwürdigerweise schwieriger als bei Linksdrehungen.
Versucht der Herr, eine Rechtdrehung zu überdrehen, ohne seine Füße richtig
gesetzt zu haben, kommt die Dame auf die falsche Seite, wo die Tanzhaltung auseinanderfällt.
Eine Linksdrehung dagegen kann immer überdreht werden,
weil die Dame bei ihrer Aktion ohnehin in die Haltung hineindreht.
In übertreibender Kürze
- Die Tanzhaltung gründet auf dem Kontakt der rechten Hüften
bzw. Körperseiten und dem Kontakt der rechten Hand des Herrn mit der
linken Schulter der Dame.
- Der Herr hält die Dame nicht fest, sondern fixiert ihren Raum.
Für den Kontakt ist die Dame verantwortlich. Sie darf (und muss)
den Kontakt aktiv suchen, besonders in allen Problemsituationen.
- Für den Antrieb ist der vorwärts Tanzende verantwortlich.
Rückwärts muss man sich tanzen lassen. Der rückwärts
Tanzende kann einladen, muss sich aber zurückhalten.
- Rechtsdrehungen verantwortet der Herr, die Dame lässt sie zu.
- Linksdrehungen verantwortet die Dame, der Herr lädt dazu ein.
- Rechtsdrehungen fordern die Dame zu einer linksdrehenden Antwort heraus.
Proteste und Zustimmung senden Sie bitte an
D.-E.Liebscher
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