Physik des Walzers, Kommentare und Polemiken
(1997, zuletzt ergänzt am 10.4.1998)
Proteste bitte an
D.-E.Liebscher (deliebscher@aip.de)
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Leonhard Euler hat das Problem gelöst, wie eine
Schiene gebogen sein muß, damit eine Murmel - ohne
angestoßen zu werden - auf ihr schnellstens von einem Punkt zu einem
gleich hohen anderen rollt. Zuerst wird die Kugel durch eine abschüssige
Bahn Fahrt gewinnen, dann muß sie den Abstand überwinden
und schließlich wieder hinaufklettern. Je tiefer die
Murmel hinunter geführt wird, desto schneller wird sie den
Abstand überwinden können, aber die Fall- und
Steigphase braucht dann mehr Zeit. Es gibt daher eine optimale
Führung. Das ist eine Kettenlinie. Sie hängt durch, und die
Tiefe des Scheitelpunktes ist gleich dem halben Abstand!
Das gibt uns einen Schätzwert für das wirksamste
Absenken: Ein 1 m langer Schritt kann 50 cm Absenken vertragen.
Das wird kaum jemand ausnutzen können, ohne auf den Knien
zu landen, es zeigt aber, dass das Absenken nur durch den
künstlerischen Eindruck begrenzt ist, und man
immer in dem Bereich ist, wo man durch mehr Absenken auch
mehr Fahrt gewinnen kann.
- Wie besprochen gibt es keine Möglichkeit,
auf dem abgesenkten Schritt seine
Richtung zu verändern (einzige Ausnahme: bei entsprechender
Unterstützung der Partners kann die Linksdrehung überdreht
werden). Daraus folgt, dass die (bei den Lehrern) beliebte
Anfängerübung
des Grundschritts im Langsamen Walzer widersinnig ist, gegen die
kräftefreie Bewegung arbeitet, und deshalb den Anfänger
wirkungsvoll abschreckt.
Kein fortgeschrittenes Paar lässt den sogenannten
Grundschritt freiwillig im Programm,
weil er aus physikalischen Gründen nicht von allein laufen
kann. Wählt man dagegen
statt des Grundschritts eine Box aus vier Takten
(bei mehr Platz auch ein Oktogon aus acht Takten für die Protagonisten
der 3/8-Drehung), erlernt man den Grundschritt
mit Leichtigkeit schon auf dem häuslichen Teppich,
weil nun im Takt die Bewegungsrichtung
nicht geändert werden muss.
- Kleinere Tänzer haben kürzere Schwingungszeiten und
benötigen entsprechend schnellere Musik: Das hat nichts mit besonders
quirligem Charakter, sondern mit der Physik der kürzeren
Pendel zu tun.
Es ist deshalb eine
besonders tückische Qual,
Kinder nach dem Metrum der Erwachsenen herumkippeln zu lassen. Die Freude
des Publikums bei entsprechenden Auftritten von Kinderpaaren
ist im wesentlichen Schadenfreude, deren sich alle schämen sollten.
-
Wenn ich schon höre Der Herr muss führen , dann
handelt es sich zumeist um eine Partnerin, der nicht bewusst ist,
dass dazu auch ihr Einsatz, nämlich Bereitschaft und Wille zur
Linksdrehung gehören. Das soll nicht heißen,
dass es nicht auch Herren gibt, die
nicht wissen, wohin es gehen soll, und das nicht nur in dem Fall,
wo in allen acht Richtungen
andere Paare vor der Nase stehen.
- Neulich habe ich einem Paar zugesehen, das versuchte, die
Anweisungen des Trainers zur schwungvolleren Gestaltung
fortgesetzter Rechtsachsen umzusetzen. Ich habe den Trainer nicht
gehört, aber es sprang ins Auge, dass
er meinte, es solle nicht so sehr rückwärts eingesetzt werden.
Wer vorwärts dran ist, muss vorwärts wollen, muss
im Vorwärtsschritt
am LF des Partners vorbeiwollen und selbst den
LF nicht von allein rückwärts tanzen sondern erst
einmal seitwärts setzen und darauf warten, dass
das Überholen durch den Partner die Drehung zustandebringt.
- Besonders die Herren lieben es, ihre Figurenfolge mal alleine
durchzutanzen. Wer wollte dagegen schon etwas einwenden!
Zwei Dinge sind es aber, deren man sich dabei bewusst bleiben muss:
Erstens gewöhnt man sich dabei an, alle Drehungen selbst einzusetzen,
die eigentlich nur durch die Partnerwirkung zustandekommen. Das Gekicher
der zuschauenden Partnerin über die Haltungsfehler ist nur
insofern ungerecht, als
diese eigentlich nicht vermieden werden können,
solange man allein probiert.
Zweitens aber gewöhnt man sich daran, immer die Initiative zu
haben. Der Dialog kann dann nicht zustandekommen, d.h., beim gemeinsamen
Training zankt meistens der Herr mit der Dame, dabei hat er selbst schuld,
weil er es nicht gelernt hat, ihr die Initiative zu überlassen
und sie dann auch nicht lernen kann, diese richtig einzusetzen.
- Was im Kopf passiert, geschieht in den Füßen immer verzögert.
Das führt dazu, dass sich allem, was im Kopf gedacht wird, die
Bewegung des Paares überlagert. Das deutlichste Beispiel dafür
ist der rückwärts getanzte Takt im Wiener Walzer. Wenn auf
dem ersten Viertel im Kopf ein richtiger Rückwärtsschritt vorbereitet
wird, muss er in den Füßen so groß werden, dass
der Partner kaum noch überholen kann und der rückwärts
Tanzende selbst keinen Platz mehr für einen Seitschritt hat.
Abgesehen davon beklagen sich die vorwärts Tanzenden (meist die
Damen), dass der Partner zu schnell weg ist, d.h. er ihnen nicht, wie er es
sollte, die Initiative überlässt. Es klingt paradox, aber
der Rückwärtsschritt
wird bereits groß genug, wenn der rückwärts Tanzende im
Kopf den Fuß nur absetzt. Die Gesamtbewegung führt ihn von allein
auf den richtigen Platz, die Fußtechnik wird einfach zu beherrschen,
es bleibt Platz für einen Seitschritt, und die Initiative des
Partners kann sich entfalten.
- Die Entwicklung geht über den Älterwerdenden hinweg. Wenn
ich mir ein Lateinturnier ansehe, frage ich mich:
Tanzen da noch Paare? Sind es nicht vielmehr 2-Personen-Formationen?
Ich sehe fast nur Monologe vor dem Publikum, nebeneinander getanzt,
aber keinen Dialog mehr. Die üblichen Kommentare zum Charakter
der Latein-Tänze treffen schon lange nicht mehr das, was geboten wird,
ganz abgesehen davon, daß sie meist völlig leer sind.
- Ich glaube gern, daß der Paso doble populär wurde, nachdem
er als Stierkampfparodie vorgeführt wurde. Dennoch verkehrt es
die Welt, wenn man immer wieder behauptet,
die Dame habe die Funktion des roten Tuchs.
Das Gegenteil ist richtig: der Torero ahmt den Tanz nach, wenn er sich in der
Arena brüstet, und das Tuch ersetzt die Dame. Ein schwacher
Ersatz fürwahr!
- Heute habe ich bei einer Fernsehübertragung von einer
Tänzerin gehört, daß Standard nicht weniger schwierig als
Latein sei und daß das Ziel der Dame darin bestehe, sich so zu verhalten,
daß der Herr jederzeit alles tun könne und die Dame
ihm dann folge. Erstens glaube ich, daß - für den Anfänger -
Latein eher leichter ist, weil es da am Anfang nur die Choreographien der
Partner aufeinander abgestimmt werden müssen, während beim
Standard die Partner selbst sich aufeinander abstimmen müssen: Nicht
umsonst ist die allgemeine Ansicht, Anfänger tanzen lieber Cha-Cha
als Walzer. Zweitens kann es nicht Ziel der Dame sein, alle
Initiative abzugeben. Ich finde, am schönsten sieht
ein Standardtanz aus, wenn die Dame vorwärts ebensoviel
Initiative entwickelt wie der Herr, wenn die Reihe an ihm ist.
Ich finde es schön, wenn die Dame ihren Federschritt vorwärts
mit dem gleichen Impuls tanzt wie der Herr den seinen, aber
ich gebe zu, daß manche Herren es vermeiden, daß
ihre Partnerin in den Genuß eines Federschritts vorwärts kommt.
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D.-E.Liebscher