Physik des Walzers
Anmerkungen zum Standardtanz aus Sicht der schnöden Physik
(1997, letzte Änderung am 17.1.2016)
Proteste bitte an
D.-E.Liebscher (deliebscher@aip.de)
Ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel, der
ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht (Schiller)
Die Kosmologie einer großen Religion behauptet, die Geschichte des
Universums sei identisch mit dem
Tanz Shivas: manchmal improvisiert, im allgemeinen nach strengen Regeln.
Dieser Grund zumindest trifft zu, ob er ausreicht, ist eine andere Frage.
Wenn Tanz und Kosmos schon Berührungspunkte haben, muss es
erlaubt sein, Tanzen von der physikalischen
Seite zu sehen, auch wenn das nicht jedermanns Sache ist, denn
Tanzen ist eine Kunst,
wie jeder merkt, der es selbst versucht. Das lassen wir so stehen,
vertiefen es aber nicht.
Es soll nur
ein Zeichen sein, dass das Folgende weder als
vollständig noch als endgültig angesehen werden will.
Außerdem geht es hier nicht um irgendeine Art Tanz, sondern
um Standardtanz, d.h. Tanzen zu zweit in geschlossener Haltung.
Standardtanz ist eine der großartigen
Erfindungen der letzten zwei Jahrhunderte, und diese
begann mit dem Wiener Walzer. Deshalb ist der Titel wohl auch angemessen.
Zunächst ist Tanzen eine Fortbewegungsart
wie Schwimmen, Reiten oder
Fahren, kann von jedem erlernt werden, muss
aber auch erst erlernt
werden. Bewegung ist ganz sicher Gegenstand der Physik,
deshalb darf diese auch Stellung nehmen.
Aus Sicht der Physik fallen folgende Punkte auf:
1. Zur Haltung
-
Beim Tanzen in geschlossener Haltung ist es
zunächst verwunderlich, dass
man sich überhaupt noch weiträumig bewegen kann. Wer es nicht gelernt hat,
kann es ja im allgemeinen auch nicht.
Der möglichen Bewegungen sind
nicht beliebig viele. Man kann sie aufzählen, standardisieren, deshalb
Standard. Immerhin gibt es noch so viele Bewegungsabläufe, dass
kaum einer sie alle lernt, solange er sich noch gut bewegen kann.
Gerade deswegen ist Standardtanzen die Krone des Tanzens, die Premium-Sektion. Nur hier
bewegt sich das Paar wie ein Kreisel, um den
gemeinsamen Schwerpunkt und
in gemeinsamer Balance. Standard ist die einzige
Tanzform, die man
einzeln nicht erlernen kann (dass Tanzlehrer verschiedene
Abläufe einzeln üben lassen, widerlegt diese These nicht).
-
Wenn sich ein Paar frei drehen soll, muss es einem
Kreisel nachfühlen, es muss Spannung im Körper aufbauen
(man denke an den Kreiseltest, der ein rohes Ei von einem
gekochten unterscheidet)
und in der Schulterlinie so breit wie möglich werden.
- Die Partner können nun nicht einfach die Arme ausbreiten, denn
die individuellen Schwerpunkte müssen verbunden werden. Eine Hand (im Folgenden
wie üblich die rechte des einen Partners, wir nennen ihn den Herrn,
obwohl das ganz geschlechtsneutral gemeint ist) muss zum Halten in der Nähe des Schwerpunkts des
anderen Partners (im Folgenden nennen wir ihn die Dame)
benutzt werden. Die der Hand abgewandte Seite der Dame
muss sich dann am Körper des Haltenden stützen.
Die Haltung kann nur dann sicher sein,
wenn der Gehaltene in Richtung der haltenden
Hand versetzt vor dem Partner steht.
Um die Oberlinie zu verbreitern, bauen beide Partner Spannung D
nach links auf.
Das Bild hier
vermittelt dazu eine Vorstellung (Es ist nicht so einfach, überhaupt
ein Bild in Standard-Haltung zu finden. Fast ausschließlich
werden nur Posen oder Promenaden
gezeigt, damit die Gesichter beider Partner zu sehen sind.)
-
Damit sich die Haltung nicht lösen kann, muss die von der rechten Hand
gehaltene Dame sich immer
ein wenig in die Linksdrehung wünschen. Aus gleichem Grunde
kann der Herr nur eine Rechtsdrehung, die Dame nur
eine Linksdrehung erwirken.
Wenn der Gehaltene (die Dame) Linksdrehungen
nicht von selbst will, findet der Haltende die Linksdrehung wesentlich
schwieriger als die Rechtsdrehung. Er braucht dann auch zuviel
Einsatz, und die Linksdrehung kann nicht leicht aussehen, abgesehen
von den berüchtigten und die Wertung so vereinfachenden
Haltungsfehlern des Herrn. Findet der Herr beim Training, dass es ihm leichter
fällt, wenn er die linke Hand an den Oberarm der Dame führt,
so zeigt das u.U., dass der die Tanzhaltung schließende Wille
der Dame zur Linksdrehung nicht ausreicht und der Herr nachhelfen will.
- Die Tanzhaltung ist vollständig durch das Bewegungsziel
und dessen physikalische Bedingungen bestimmt.
2. Zur Bewegung
- Alle Bewegung erfordert kinetische Energie, die aber nicht durch
unmittelbaren Krafteinsatz gewonnen werden soll.
Tanzen ist kein Kraftsport, entgegen anderslautenden
Aussprüchen. Der einzige Krafteinsatz,
der richtig abgestützt ist und deshalb ebenso unsichtbar
wie wirkungsvoll ist, ist der senkrecht zum Boden, also das Heben und Senken
des Körpers. Das Absenken im Stand ist die einzige
Energiequelle
für die Bewegung, der man keine Kraft ansieht. Durch die geeignete Führung des Körpers
wird die potentielle Energie im Schwerefeld in kinetische
Energie der Geradeausbewegung umgesetzt.
- Die potentielle Energie kann nicht ohne Mitwirkung des Partners
in Drehung umgesetzt
werden, weil der Fuß auf der Fläche ja frei drehbar sein soll,
also nur wenig Unterstützung für ein Drehmoment findet.
Die Ausnahme ist hier die Spiraldrehung: zwei Füße
stehen auf dem Boden und ermöglichen aktive Drehbeschleunigung,
obwohl beide einzeln frei drehbar sind. Im allgemeinen wird das Standbein des
Partners als zweiter Fixpunkt benötigt.
- Die einmal (durch Absenken) gewonnene Geradeausbewegung kann
nur auf zwei Arten beendet werden: Entweder wird die Geradeausbewegung
durch Erheben
wieder in potentielle Energie umgesetzt, oder sie wird
wie gleich besprochen in Drehung verwandelt,
was aber auch nie ganz ohne Erheben abgeht.
Der Impuls der Geradeausbewegung kann sonst nur durch Krafteinsatz
verändert werden. Der soll aber gerade vermieden werden.
-
Der Herr hat keine Möglichkeit,
ohne Krafteinsatz auf dem abgesenkten Vorwärtsschritt seine
Bewegungsrichtung zu verändern (einzige Ausnahme: bei entsprechender
Unterstützung der Partners kann die Linksdrehung überdreht
werden).
- Das Tempo der Tänze ist durch die Eigenfrequenzen der
schwingenden Teile, insbesondere der Beine bestimmt.
120 Schritte in der Minute (Marsch) sind das Grundmaß. Jedes
langsamere Metrum verlangt Verhalten, das etwa im Langsamen Walzer oder
im Langsamen Foxtrott
(etwa 90 Schritte pro Minute im Grundrhythmus) durch Erheben
und im Tango durch Stops erreicht wird. Im Wiener Walzer (180 Schritte
pro Minute) ist das Maß durch das einfache Schließen in jedem
dritten Schritt verkürzt. Der Quickstep legt gegen den Langsamen Walzer
halbe Schritte ein. Um diese zu vergrößern und ihnen mehr
Geschwindigkeit zu verleihen, wird der Quickstep im Metrum angezogen
(52 Takte pro Minute statt 48).
Jedes schnellere Spielen der Tänze erfordert mehr Spannung
beim Tänzer, die Tänze wirken dann angestrengt und überhastet.
Jedes langsamere Spielen erfordert längeres Verhalten, die
Tänze wirken verkippelt und gestanden.
3. Zur Drehung
-
Die Drehungen kommen wesentlich dadurch zustande, dass
Vorwärtsbewegung in Drehbewegung umgesetzt wird, indem der
vorwärts Tanzende den rückwärts Tanzenden überholt.
Das ist auf der linken Seite einfacher (natürlicher)
als auf der rechten,
denn dort steht ja gerade der Partner. Überholt der
vorwärts Tanzende nun auf der freien linken Seite, ergibt
sich eine Rechtsdrehung.
Deshalb versteht man, warum die Rechtsdrehungen in
englischer Bezeichnung immer natural turns sind, die Linksdrehungen
dagegen reverse turns.
- Drehung entsteht also immer erst durch Geradeausbewegung an einem
langsameren Punkt vorbei. Im Idealfall ist der rückwärts
Tanzende dieser langsamere Punkt. Versucht man eine Drehung allein,
muss dieser Punkt durch den hingestellten
eigenen Fuß fixiert werden. Dann muss man ihn aber neben
die beabsichtigte Linie des Schwerpunkts setzen: man muss die Balance verlassen,
und das kann bereits ein Fehler sein. In diesem Sinne kann man eine Drehung
nicht ohne Partner richtig lernen (siehe oben).
- Rechtsdrehungen kommen gewaltfrei durch Überholen zustande.
Das eigene Wissen, wohin es gehen soll, wird zur
Führung und Korrektur eingesetzt. Nur der Herr darf und kann zusätzlichen Drehimpuls erzeugen.
Tanzt die Dame eine bewusste Rechtsdrehung, dreht sie sich aus der
Haltung heraus.
Nehmen wir als Beispiel den normalen Rechtskreisel: Nur wenn die Dame
keine Drehung selbst tanzt, sondern sich immer in Tanzrichtung bewegt
(im ersten Schritt
vorwärts, im zweiten seitwärts) hat der Herr Gelegenheit, den
Kreisel so groß zu führen, wie es die Balance zulässt,
dreht die Dame selbst, wird der Kreisel regelmäßig
zu eng, oder der Herr wird umgerissen. Wohlgemerkt, es geht
bei dieser Diskussion um das Erzeugen der Drehung, nicht
um ihre Erhaltung wie etwa in den standing spins etc.)
- Der einfache
Wiener Walzer rechts herum ist in diesem Sinne ein Tanz
ohne Drehungen, in dem von Takt zu Takt die Initiative wechselt und der
jeweils vorwärts Tanzende überholt. Man zähle nicht
eins zwei drei eins zwei drei
sondern ich bin dran du bist dran!
Tanzen ist ein Dialog,
bei
dem eine Bewegung die andere beantwortet, und Walzer ist der einfachste
solche Dialog.
Links herum muss -- wie schon gesagt -- der rückwärts Tanzende
etwas Einsatz zeigen und sich den Partner so hinstellen, dass er wieder
richtig vorwärts kann, wenn er seinerseits an der Reihe ist.
Das heißt, im Rückwärtstakt der Dame überdreht die
Dame selbst, im Rückwärtstakt des Herrn gestattet dieser der Dame
zu überdrehen.
Dieser zusätzliche Einsatz zwingt dann sogleich den vorwärts
Tanzenden, im dritten Schritt vorn zu kreuzen.
-
Da der vorwärts Tanzende seine Richtung auf dem abgesenkten Schritt nicht
verändern kann, die Dame aber nicht von allein nach rechts drehen darf,
kann die effektive Rechtsdrehung nicht über den
gestreckten Winkel hinausgehen.
Es ist deshalb sehr schwierig, kräftefreie Rechtsdrehungen
im Uhrzeigersinn um die
Fläche zu tanzen. Dazu muss der Herr in seinem Rückwärtstakt
die Rechtdrehung überdrehen. Gegen den Uhrzeigersinn ist das
Überdrehen leichter, weil es der Führung in der
geraden Linie entgegenkommt.
Einsatz in die Linksdrehung darf (und muss) die
Dame zeigen, deshalb können Linksdrehung weiter gedreht werden und
der gewohnten Umrundung der Tanzfläche steht auch so nichts im Wege.
Die gewohnte Tanzrichtung ist daher schon in dem Moment festgelegt, in dem
zur Führung die rechte Hand benutzt wird.
- Linksdrehungen können nicht allein durch
Überholen zustandekommen, jedenfalls nicht die vom Herrn vorwärts
eingeleiteten Linksdrehungen (Telemark, Linkskreisel,
Rückfalllinksdrehung etc.). Die Dame muss immer in die
Linksdrehung selbst ausführen, sobald der Herr ihr den Platz gibt, sonst bleibt sie nicht in der Haltung.
- Diese Spannung in die Linksdrehung gilt besonders in
Promenadenpositionen. Sie sorgt dafür, dass nach dem
ersten Schritt, dem in die Promenade, die Haltung sofort wieder richtig
geschlossen werden kann. Wer sich das noch nicht klargemacht hat,
für den scheint es paradox, dass dieser Einsatz der Dame
(der Wille zur Linksdrehung) auch in den aus Promenadenposition
eingeleiteten Rechtsdrehungen
wichtig ist, in den Linksdrehungen (big top etc.) ohnehin.
- Der Wille der Dame zur Linksdrehung muss es dem Herrn gestatten,
erst mit der Führung im zweiten Schritt zu entscheiden, ob aus der
mit dem linken Fuß vorwärts begonnenen Drehung ein Telemark,
ein Linkskreisel oder eine Rückfalllinksdrehung wird. Nimmt die Dame
etwa in der Rückfalllinksdrehung den Kopf in die Promenadenposition,
ohne auf die Führung zu warten, weil sie weiß,
dass diese Drehung jetzt im Programm ist, dann tanzt sie aus der
Haltung und die gesamte Drehung wird viel zu schwer. Die Führung
in die Promenadenposition muss seitens
der Dame im nächsten durch einen besonderen Willen zur Linksdrehung
beantwortet werden. Dann ergibt sich der slip pivot des Herrn
kräftefrei. Tanzen ist ein Dialog, Rechtsdrehung
wird mit Linksdrehung beantwortet und Vorwärtsbewegung
des Herrn mit Vorwärtsbewegung der Dame.
4. Zur Spiegelung
Wählte der Haltende die linke Hand, ginge alles spiegelverkehrt:
- der Gehaltene stünde nun auf der linken Seite des Haltenden,
- müsste sich in die Rechtsdrehung wünschen,
- beide tendierten im Oberkörper nach rechts,
- die Linksdrehung würde die natürliche,
- der Führende würde für die Linksdrehung verantwortlich,
- der Geführte für die Rechtsdrehung,
- die Linksdrehung könnte nicht mehr überdreht werden, deshalb
- müsste die Tanzrichtung im Uhrzeigersinn um den Saal gehen.
5. Grundsätzlich
- Standard ist die Krone des Tanzens. Das wird vor allem dadurch
bestätigt, dass viele Füchse die Trauben zu sauer finden und deshalb
meinen, Latein- oder Modetänze mache allen viel mehr Spaß.
Fliegen lernen kann man damit aber nicht.
Und hier geht es weiter.
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D.-E.Liebscher